Fasten zur Entschleunigung

„Nur der Geduldige erntet, was reif ist.“ (afrikanisches Sprichwort).

Der moderne Mensch meint, jeden Augenblick im Griff haben zu müssen. Warten ist eine Tortur (Geduld von dulden, ertragen). Geduldig sein heißt, einfach da sein, warten bis etwas reif ist. Unruhe treibt an, hetze bringt einen um. Wer zu rastlos ist, wird häufig zur Rast gezwungen, durch einen Schlaganfall oder Herzinfarkt.

" Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist." (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1971, S. 113)
Die Griechen verbanden zwei Vorstellungen von Zeit: die des Chronos und die des Kairos. Chronos entthronte seinen Vater Uranos im Himmel. Um demselben Schicksal zu entgehen, fraß er alle seine Kinder, nur Zeus wurde durch eine List gerettet und beSiegte seinen Vater. Das Göttliche wird nicht von der Zeit tangiert. Die Zeit frisst alle ihre Kinder, außer Zeus, der die Macht repräsentiert. Nur wer Macht über sich selbst hat, gewinnt auch Macht über die Zeit. Der passive, unbewusste Mensch, der sich als Opfer fühlt, wird von der Zeit gefressen, seine Probleme werden „chronisch“. Der Stress wird immer größer, freie Zeit erscheint als Belastung, die in Aktionismus ertränkt werden muss, um sich nicht mit sich selbst beschäftigen zu müssen. Der aktive, bewusste Mensch hingegen empfindet Zeit nicht als Druck, sondern als notwendigen Faktor, in dem alle Dinge wachsen und reifen. Er lebt im Jetzt und kann die Gelegenheiten, die sich bieten, beim Schopfe fassen. Das ist der Augenblick, den Kairos verkörpert. Kairos, jüngster Sohn von Zeus und Enkel von Chronos, gilt als Gott des rechten Augenblickes und der günstigen Gelegenheit - mit einem Haarschopf an der Stirn - um die Gelegenheit beim Schopfe packen zu können. Die Qualität der Zeit, Kairos, kann nur derjenige treffen, der den rechten Augenblick zu nutzen versteht, der den Chronos nicht als Last, sondern als notwendige Erfahrung betrachtet, Kairos zu treffen. Jegliche Zeit ist verloren, in der wir die Gelegenheiten verpassen. Zeit hat also nur Qualität in den Gelegenheiten, Sie existiert nur im Jetzt. Cervantes sagte: „Auf der großen Zeituhr steht nur ein einziges Wort: JETZT!“ (Hannes Weinelt). In der Bibel ist diese griechische Weisheit zusammengefasst: „Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Weinen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz. (Buch Kohelet, Koh 3, 1-4)

Nicht selten braucht es gewisser Anstöße des Lebens (z.B. Krankheit, Gefahr oder der Tod eines anderen), um die Notwendigkeit zu erkennen, sein Leben wieder selbst zu bestimmen und der uns anerzogenen, zweideutigen Parole zu widerstehen: „Leben Sie schneller, dann sind Sie schneller fertig“. Selbst zum Schlafen nehmen wir uns heute weniger Zeit als früher. Wir geben viel Geld und Energie aus, die Nacht zum Tag zu machen und haben trotzdem nicht „mehr Zeit“. „Moderne Menschen haben oft schlecht synchronisierte innere Rhythmen und schlafen im Durchschnitt etwa eine Stunde weniger als noch vor 20 Jahren. Vielleicht sind viele unserer so genannten Zivilisationskrankheiten langfristige Folgen eines Lebens gegen die innere Uhr“ (Wirz-Justice). "Wer die Nacht nicht ehrt, ist seines Tages nicht wert." Eine alte italienische Bäuerin soll diesen Satz einmal gesagt haben, als Sie gerade von einem schweren Familienstreit kam, einer Erbschaftangelegenheit. Sie hatte diesen heißen Streit geschlichtet, soweit er am Tage, an diesem Tage zu schlichten war. Allen Mitstreitenden und dem Schriftsteller Friedrich Heer, der davon berichtet, hatte Sie dann gesagt: "ma tutte le cose son buone." Alle Dinge sind gut. Kinder, geht schlafen.

Fasten ist Entschleunigen. Fasten geht nach innen, löst innere körperliche und geistige Prozesse aus. Bereits der Entschluss, zu fasten, löst einen Vorgang aus, der aus dem Alltag führt. Fastenneulinge beschreiten neues Terrain und überlassen sich - sich selbst, ohne genau zu wissen, was pasSiert. Instinktiv rechnen Sie damit, dass Sie in gewisser Weise in den nächsten Tagen und Wochen nicht genauso weiter leben werden wie vorher, vielleicht wollen Sie auch etwas verändern und spüren bereits im Vorfeld bei der Beschäftigung mit dem Fasten, dass Entschleunigung notwendig sein wird.
Fasten verschafft auch im direkten, wörtlichen, Sinn „mehr Zeit“. Viele Aktivitäten des alltäglichen Lebens entfallen – Kochen, Einkaufen, Essen. Der Mensch lebt auf „Autopilot“. Der Kalorienbedarf wird aus dem inneren Speicher gedeckt, ohne bewusste Beeinflussung oder Regelung. Der innere Zusammenhang von Körper und Geist, von bewusstem und unbewusstem Tun wird erkennbarer und durchschaubarer. Manche Fastenden treibt es zu vielen Aktivitäten, andere wollen sich lieber in Ruhe zurückziehen. Zeit spielt keine große Rolle. „Zeit im ist Fasten nicht mehr zerteilt, nicht mehr durch den Rhythmus von Hunger und Sättigung geprägt“ (Günter Uecker, nach Toledo, 2003).

Der Fluch der Unterbrechung
Vor allem die Unterbrechungen „fressen Zeit“. Wann „verlieren“ wir die Zeit? Wenn wir versunken in einem Gedanken oder einer Beschäftigung alles um uns vergessen oder wenn wir verliebt über beide Ohren in eine andere Welt tauchen. Unterbrechungen rauben uns dieses Gefühl, indem Sie uns an die „Zeit“ erinnern. Unterbrechungen sind inzwischen ein wissenschaftlich anerkanntes Grundübel der Menschheit. Alle elf Minuten wird der Mensch am modernen Arbeitsplatz durch Telefonanrufe und E-Mails unterbrochen. Wissenschaftler der University of California erforschten die Arbeitsabläufe von Managern und Programmierern. Nach jeder Unterbrechung wendet sich der Büroarbeiter im Durchschnitt mindestens zwei anderen Aufgaben zu, bevor er etwa 25 Minuten später zur ursprünglichen Tätigkeit zurückkehrt. Jede Unterbrechung bringt das kunstvoll gebaute Gedankengebäude der vorherigen Tätigkeit zum Einsturz. Kontinuierliches, konzentriertes Arbeiten wird so verhindert. Es vergehen acht Minuten, bis die Konzentration der vorherigen Tätigkeit wieder erreicht wird. Es bleiben drei Minuten bis zur nächsten Unterbrechung. Inzwischen, so die Wissenschaftler, hat sich der Büromensch an die Unterbrechungen gewöhnt und wenn keine „externen“ Unterbrechungen auftreten, unterbricht er „intern“, in dem er sich selbst unterbricht und nicht mehr in der Lage ist, eine Tätigkeit über einen längeren Zeitraum zu Ende zu führen. Die untersuchten Angestellten waren für 11,7 Aufgaben zuständig. Je weniger Sie in jeder einzelnen Aufgabe vorankommen, desto hektischer jonglieren Sie die Dringlichkeiten. Die Arbeit kommt ihnen immer anstrengender vor, der Einsatz immer größer, während Sie immer schneller auf der Stelle treten. Manager berichten über die Abhängigkeit von Unterbrechungen. Sie werden bereits als die eigentliche Arbeit betrachtet. „Ich bin abhängig von Unterbrechungen. Wenn ich nicht unterbrochen werde, weiß ich nicht, was ich als nächstes machen soll. Es ist wie mit Schokolade oder Kartoffelchips. Ich spüre, ich sollte meine Hand nicht nach ihnen ausstrecken, aber mir fehlt die Willenskraft.“ Wissenschaftler am Londoner King’s College fanden heraus, dass die Leistungsfähigkeit der Empfänger von E-Mails niedriger liegt als in einer Kontrollgruppe, der Marihuana verabreicht wurde. Inzwischen wird als Lösung des Problems der laufenden Unterbrechungen vorgeschlagen, wieder zu ganz einfachen, langsamen Computern zurückzukehren, mit denen man nur schreiben kann und bei denen man noch zum Denken kommt.(Die Zeit, 46, 2006) Meine eigene Erfahrung: Während ich hier schreibe, warte ich auf einen DSL-Anschluss der Telecom, der aber erst in 4 Wochen verfügbar ist. Jetzt erst merke ich, wie Arbeiten ohne laufende E-Mail-Unterbrechen sein kann und ich gebe es zu: manchmal fehlt mir die Unterbrechung!

„Augustinus hat im ersten Buch der „Bekenntnisse“ gesagt, dass Gott alles, was noch zukünftig ist, selbst über tausend und abertausend Jahre, … schon jetzt gemacht hat und dass er alles, was schon manches Jahrtausend vergangen ist, noch heute machen wird. ‚Was kann ich dafür, wenn jemand das nicht versteht?’ (Meister Eckhart, DP, S. 138)

Die Zeit ist ein Phänomen unseres Bewusstseins. In Wirklichkeit gibt es keine Zeit. Eine Eiche hat ein anderes Bewusstsein von Zeit als eine Eintagsfliege. Auch wir Menschen haben unterschiedliche Zeitvorstellungen. Das Zeitgefühl ändert sich ständig, einmal vergeht die Zeit langsam, im Urlaub meistens sehr schnell, ältere Menschen spüren die Zeit schneller vergehen als Kinder. In der Religion und Mystik, aber auch in der Physik gibt es „Zeit“ als feste Größe nicht (Relativitätstheorie).

„Indem ich über die Zeit nachdenke, schmecke ich die Ewigkeit selber, dass in einem Augenblick alles eins ist: Gott und Mensch, Himmel und Erde, Wort und wortloses Geheimnis, Zeit und Ewigkeit.“ (Grün, 2002, 52)

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